Sozialdemokraten im Land Hadeln
Auch wenn sich der Erfolg zunächst nur in bescheidenem Maße einstellte, so waren jene 31 Hadelner Männer, die 1876 den Sozialdemokratischen Wahlverein Otterndorf gründeten, höchst mutige Pioniere auf dem Weg zur Durchsetzung der sozialen Gerechtigkeit.
Ihren Schritt wagten sie in einem politisch eher ruhigen Jahr, das Grollen der vom Sturm gepeitschten See aber ließ sich längst vernehmen. Auch im Land Hadeln war die Zeit von wachsender Not in der Arbeiterschaft geprägt, ob diese nun im handwerklichen und produzierenden Gewerbe (Stichwort Ziegeleien) tätig war oder sie als Knechte und Mägde dem Broterwerb in der Landwirtschaft nachging.
Gestatten Sie an dieser Stelle eine kleine Kostprobe des Sturms, der den Pionieren ins Gesicht blies, sie aber nicht von der Gründung des Sozialdemokratischen Wahlvereins Otterndorf abhielt.
Verächtlich beäugt und argwöhnisch von der „strammen“, bürgerlichen Gesellschaft im Kaiserdeutschland belauert, war es ausgerechnet der Osterbrucher Pastor Pfaff, der bereits 3 Jahre vor Gründung des Sozialdemokratischen Wahlvereins seine Stimme am 18.Dezember 1873 in Form von schwarzen Lettern im Otterndorfer Wochenblatt erhoben hatte:
„Unsere Hauptfeinde, die wir zu bekämpfen haben, sind die Rothen, die mit den Worten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im Munde nichts anderes wollen, als die Vernichtung des Staates, der Familie und des Eigenthums.“
Kommen wir zurück zur Hadelner Gründungsgeschichte, der einst der verdiente Sozialdemokrat Siegfried Leuthold nachspürte. Seinen Ausführungen zufolge ist in einer Akte des Kreisarchivs im Kranichhaus die Notiz des damaligen Otterndorfer Bürgermeisters Hüpede enthalten.
Aus dieser geht hervor, dass am 18. Mai 1876 der Schuhmacher-geselle Carl Knote bei ihm erschienen war und – wie im gültigen Vereinsgesetz vorgeschrieben – ein Exemplar der Statuten des Sozialdemokratischen Wahlvereins für den 18. und 19. Hannoverschen Wahlkreis sowie ein Verzeichnis der Gründungsmitglieder überreicht hatte.
Da der Verein auch den Zweck verfolgte, politische Gegebenheiten in Versammlungen zu thematisieren, wurde Carl Knote auferlegt, binnen drei Tagen zusätzliche Informationen über die Mitglieder des Vereins vorzulegen – als Voraussetzung für eine Registrierung im Vereinsregister der Stadt.
Dieser Aufforderung muss Knote jedoch nicht nachgekommen sein. Jedenfalls erfolgte nie eine Eintragung, was dem Magistrat wahrlich nicht ungelegen kam. Denn dieser konnte später zur Zeit des Sozialistengesetzes immer darauf verweisen: „Ein sozialdemokratischer Wahlverein hat in diesem Amtsbereich nie existiert.“
Den hiesigen Bürgern waren die Sozialdemokraten ein Dorn im Auge. Sich Arbeitern, Knechten, Dienstboten und Handwerks-gesellen verschreibend und mit ihren Parolen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in der Lage, Unruhe in die so beschauliche Bürgerwelt der Kleinstadt Otterndorf zu bringen, machte diese zu Außenseitern.
Aber es waren nicht nur wohlhabende Bürger und Ortshonoratioren, die den Sozialdemokraten die kalte Schulter zeigten. Das Otterndorfer Wochenblatt leistete hier ganze Arbeit. Stramm nationalliberal, veröffentlichte es lediglich Artikel, die in sein Konzept passten.
Es lohne sich nicht, über dieserart Leute zu berichten, was man somit auch nicht tun wolle. Konsequent verweigerte man sich der SPD-Berichterstattung – übrigens bis nach dem 2. Weltkrieg.
Die Hadelner SPD-Pioniere des Jahres 1876 aber blieben blass. Zunächst kam Unterstützung aus Hamburg. Die Reichstagswahl 1877 brachte dann immerhin mit 72 Stimmen 15 Prozent. Angesichts des Fehlens nötiger Manpower in Hadeln wurde die Förderung des Wahlkreises durch die Partei zunächst eingestellt.
Als 1878 Bismarcks Sozialistengesetz in Kraft getreten war, erachtete es der Otterndorfer Magistrat nicht einmal mehr für notwendig, die SPD offiziell zu verbieten. Denn es gab sie ja nicht.
Aber da war doch was: Sozialdemokratische Kalender, die sich im Umlauf befanden. Die galt es selbstverständlich unschädlich zu machen. Und so startete der Landrat des Kreises Hadeln, Bayer, eine große und kostenlose Umtauschaktion. SPD-Kalender wurden durch Heimatkalender mit vaterländischem Gedankengut ersetzt.
In dem vor 13 Jahren erschienenen Buch „Otterndorf – 600 Jahre Stadtgeschichte an der Nordsee“ widmet sich der Cuxhavener Historiker und Verleger Hans-Jürgen Kahle der Zeit des Nationalsozialismus in der Medemstadt.
Dort ist zu lesen, dass bei der ersten Reichstagswahl 1924 der „Völkisch-Soziale Block“, wie sich damals die Rechtsradikalen nannten, bereits 15 Prozent der Stimmen in den drei Otterndorfer Wahlbezirken auf sich vereinen konnte. Eine NSDAP-Ortsgruppe wurde hier 1930 gegründet. Bei der Reichstagswahl 1933 konnte die Partei bereits 40,2 Prozent in der Medemstadt verbuchen.
Am 2. März des Jahres sollte eine SPD-Kundgebung stattfinden; sie wurde vom amtierenden Landrat Siebs verboten. Stattdessen verbrannten SA-Männer deren verhasste Fahne vor dem Landratsamt. Wenige Wochen zuvor war es noch zu einer illegalen Demonstrationsfahrt von Sozialdemokraten aus Lüdingworth, Nordleda und Neuenkirchen unter Leitung des Cuxhavener SPD-Vorsitzenden Wilhelm Heidsiek, gekommen. Daraufhin wurde dieser zu einer Gefängnisstraße verurteilt, die er im Otterndorfer Gefängnis abzusitzen hatte.
Im Dezember 1933 aus der Haft entlassen, wurde Wilhelm Heidsiek nach dem misslungenen Hitler-Attentat im Sommer 1944 im Zuge der reichsweiten Aktion „Gewitter“ erneut inhaftiert. Er starb am 07.November des Jahres im KZ Neuengamme bei Hamburg. Die offizielle Todesursache: Herzschlag.
Neben der brutalen körperlichen Ausschaltung von politischen Gegnern kam es auch zur Säuberung von Ämtern und Gremien. So ordnete die Bezirksregierung in Stade am 26. März 1933 an, dass alle sozialistischen Mitglieder der Gemeindevorstände und Deputationen mit sofortiger Wirkung zu beurlauben seien.
Gemeint waren vor allem Mitglieder der SPD. Ausgeweitet wurde dieser Erlass auch auf die gewählten Mitglieder der Schulbeiräte. Der Hadelner Landrat Siebs handelte prompt und ließ SPD-Senator Wilhelm Röfer aus seinem Amt entfernen. Dieser war noch bei der Kommunalwahl am 12. März 33 Spitzenkandidat der SPD-Liste gewesen.
Die anderen drei gewählten Mitglieder der SPD-Liste, der pensionierte Postschaffner Johann Kähler, Maurer Ferdinand Majestädt und Schriftsetzer Friedrich Lohmann verloren im Juni 1933 ihr Mandat. In einem Rundbrief an alle Gemeindebehörden im Landkreis schrieb der damals stellvertretende nationalsozialistische Landrat Hasse: „Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist als staats- und volksfeindliche Organisation anzusehen.“
Dem SPD-Ortsverein Otterndorf wurde im Frühsommer 1933 das vorhandene Vermögen gesperrt. Hausdurchsuchungen, Beschlagnahme von Gegenständen und kurzzeitige Inhaftierungen waren Mittel der Einschüchterung. Dem Postschaffner Johann Kähler wurden das SPD-Mitgliedsbuch, SPD-Liederbücher, Zeitungen und Zeitschriften genommen. Schikanen blieben an der Tagesordnung.
So meldete am 12. November 1933 eine Streife der Hilfspolizei, die zumeist aus Männern der SA, SS oder des Stahlhelms bestand, dass sich im Hause des ehemaligen SPD-Vorsitzenden von Otternsorf, Johann Kähler, mehrere Männer aufhielten.
Der alarmierte Polizist fand in Kählers Haus neben der Familie lediglich einen auf dem Sofa ruhenden Mann vor. Dieser gab an, den letzten Zug nach Cuxhavener verpasst zu haben. Bei der Person handelte es sich um den Cuxhavener Wächter Erich Neumann. Er hatte Kähler in einer Fürsorgeangelegenheit sprechen wollen, denn dieser war vor der NS-Zeit Vorsitzender der Ortsgruppe der Kriegsbeschädigten in Otterndorf.
Weder Kähler noch Neumann wurde Gehör geschenkt. Letzterer hatte die Festnahme hinzunehmen, und bei Kähler wurde eine umfassende Hausdurchsuchung vorgenommen. Lückenlose Überwachungen, Denunzierungen, Demütigungen: Bis zum Ende des NS-Regimes durchlebten die Sozialdemokraten auch im Land Hadeln bittere, Leben und Existenz bedrohende Jahre.